Krankenstation

"Die Kameras waren eingeschaltet - ich glaube, er weiß es schon längst", setzte Mimi die noch viel unfreundlichere Nachricht hinterher und streckte erneut ihre Hand aus, um ihre Finger um die ihres Bruders zu schlingen und ihm damit ein klein wenig Halt zu geben. Die Ehre war etwas, das in ihrer beider Heimatland unglaublich hoch gehalten wurde und die für jeden, der dort lebte, etwas Heiliges war - verlor man seine Ehre, verlor man sein Gesicht und damit alles Ansehen, das man sich über all die Jahre hinweg errichtet hatte. Dass dieser Kampf nun so öffentlich ausgetragen worden war und Kai so sehr gedemütigt worden war, traf sie nun doch härter als sie es zu Beginn gedacht hatte. Mit der freien Hand strich sie sich einige dunkle Strähnen aus dem Gesicht und legte dann ihre Hand an das Gesicht ihres Zwillings, nur um ihn wenig später dazu zu zwingen, sie anzusehen und sein Gesicht nicht noch einmal von ihr abzuwenden. Er war ihr Bruder, der zweite Teil ihrer eigenen Seele und ganz gleich was geschehen würde, sie würde zu ihm stehen und ihn unterstützen. Im Grunde genommen war der Kampf unfair gewesen - er hätte nicht gewinnen können, aber das wollte sie ihm nicht so offensichtlich deutlich machen.
"Kai, das ist nicht deine Schuld. Das Mädchen ist dafür geschaffen worden zu kämpfen - Cerberus hat viele Jahre Forschung darauf verschwendet, sie zur Waffe zu machen und du bist eben ein Mensch", versuchte sie ihm klar zu machen und als ihr bewusst wurde, was sie eigentlich gesagt hatte, hob sie den Kopf und schüttelte selbigen, als wolle sie damit seine düsteren Gedanken gleich wieder zur Seite fegen. "Und das ist auch gut so, Kai", ließ sie hastig folgen und drückte seine Hand noch einmal behutsam, ein stummes Flehen in ihren Augen, von dem sie hoffte, es würde ihn davon abhalten, sich für weiteren Unsinn zu melden. Sie wollte ihren Bruder so behalten wie er war - wollte ihn nicht zu einem Monster machen lassen, wie es die Cyborgs der Organisation waren, die keinen eigenen Willen mehr hatten. "Du hast deine Ehre nicht verloren - du hast nicht gegen einen Menschen gekämpft."

"Ich würde niemals mein menschliches Wesen aufgeben" meinte Kai und sah die andere an. Es war mittlerweile schon beinahe unmöglich mit der Technologie von Cerberus mit zu halten. Agent Hunter war ihm ebenso haushoch überlegen wie Butcher oder Wolf. Das war in Ordnung gewesen - wäre doch auch niemand auf die Idee gekommen sich einem Panzer im Zweikampf zu stellen. Aber trotz Mimis Aussage, dass Natalee kein Mensch war... sie sah so aus. Sie benahm sich so und wurde von allen als solche wahrgenommen und genau das war es, was ihm das Genick brach.
Er atmete tief ein und aus, versuchte sich selbst zu beruhigen.
"Und jetzt?" fragte er sie leise und blickte ihr tief in die Augen, welche seinen so ähnlich waren. Er liebte Mimi wie kein anderes Wesen auf dieser Welt, war sie doch die einzige bei der er sich vollkommen fühlte. Als wäre sie ein Teil von ihm. "Was bleibt mir nun?"

"Wir", lautete Mimis leise Antwort, welche von einem sanften Lächeln begleitet wurde, das nur allzu selten ihre Züge aufweichte und sie freundlicher malte als sie es sonst waren. Es war ihr wichtig, dass er erkannte, dass es längst nicht alles war, sich von Kampf zu Kampf weiter zu arbeiten, längst nicht alles war, immer nur besser und besser zu werden und sich dadurch Respekt zu verschaffen - er hatte verloren und es war seine erste Niederlage gewesen, aber sie sah trotz allem noch nicht den Grund dafür, jetzt alles aufzugeben und im Stillen hoffte sie darauf, dass auch der Erleuchtete ihn nicht allein deswegen aufgeben würde. Noch einmal glitten ihre Finger behutsam über die seinen, nahmen daran die Schwielen wahr, die von dem Gebrauch der Waffe erzählten, die rauen Stellen und feinen Narben, die sich über zahlreiche Kämpfe hinweg darauf abgezeichnet hatten und ihn härter machten als der Mensch, der er eigentlich war. Kai hatte noch nie viel Wert darauf gelegt, von seiner Umgebung gemocht zu werden, war schon immer unfreundlich und ehrgeizig gewesen, sobald andere um ihn herum waren - nur bei ihr war er anders, nur bei ihr schien er all diese Fassade fallen zu lassen, die ihr ab und an noch Angst gemacht hatte, als sie beide Kinder gewesen waren. Er war damals ihr Held gewesen, weil er sie vor allem Ärger beschützt hatte und wann immer sie sich erinnerte - sie hatte immer zu ihm aufgeblickt.
"Wir werden so weitermachen wie bisher, Kai. Gemeinsam", setzte sie noch hinzu und nickte ihm noch einmal knapp zu, als wolle sie ihn noch einmal davon überzeugen, was sie gesagt hatte und damit verursachen, dass er sich ihre Worte auch zu Herzen nahm und sie eben nicht einfach so abtat und belächelte. "Du bist immer noch derselbe, der du vorher warst. Du bist immer noch Cerberus' bester Attentäter, du bist immer noch der persönliche Agent des Erleuchteten und du bist auch immer noch mein über alles geliebter Bruder."

"Mhm" meinte Kai nur, wenngleich er es auch in keinster Weise so abwehrend, so... unfair meinte wie es jetzt wahrscheinlich rüber kam. Er dankte Mimi für ihre liebevollen Worte und tief in seinem Inneren glaubte er zu wissen, dass sie recht hatte. Das die Welt nicht unterging und das er auch weiterhin seinen Job behalten durfte. Wahrscheinlich war der Erleuchtete ihm dankbar - wenn dieser Mann solche Gefühle überhaupt empfinden konnte - weil Kai sein wertvolles Projekt ausgetestet hatte und der Führer ihrer Organisation somit endlich verwertbare Testdaten hatte. Auch wenn Kai noch nicht wirklich an die positiven Faktoren der Geschichte glauben wollte.
Er sah noch einmal zu Mimi und zeigte ein schmales Lächeln - er wollte noch nicht sofort wieder gute Laune haben. Wollte nicht alles herunter spielen und abwiegeln. Doch eine Sache, die hatte er nun klar vor Augen - klarer als alles andere jemals zuvor und er fragte sich, wieso er es zuvor noch nicht gesehen, noch nicht erkannt hatte. "Ich werde sie irgendwann besiegen" meinte er leise.